Posturographie

Biomechanische Bewegungsanalyse – Posturographie (IBS/neurodata/Wien)

Der Mensch hat ein Leben lang das Ziel, sich in einem relativen Gleichgewichtszustand zu befinden, sei es psycho-sozial oder aus Sicht der Motorik, den Körper gegenüber äußeren Störeinflüssen in der Balance zu halten. Insofern stellt die Anforderung, sich im Gleichgewicht der inneren und äußeren Kräfte zu halten, eine fundamentale Leistungsdisposition dar. Diese wird vor allem dann gegenwärtig, wenn erhöhte Anforderungen im Sport (z. B. Turnen, Wasserspringen) oder Beruf (z. B. Dachdecker, Feuerwehrmann) an die Haltungs- und Gleichgewichtsregulation gestellt werden oder diese aufgrund von Krankheiten/Verletzungen eingeschränkt sind. So zählen Gleichgewichtsstörungen, neben den Gangunsicherheiten, zu den zentralen klinischen Risikofaktoren für Stürze, insbesondere im höheren Lebensalter.

Die Posturographie (engl. posture=Haltung) ist eine elektrophysiologische Messmethode zur Messung der bei der Haltungs- und Gleichgewichtsregulation auftretenden Körperschwankungen. Die Posturographie mittels Kraftmessplatten stellt, bezogen auf die Messung von Weggrößen (Schwankungsweg), ein indirektes Verfahren dar. Die Lageveränderungen des Körperschwerpunktes in der Horizontalebene bzw. des Druckmittelpunktes sind die zentralen Messparameter. Anhand der abgeleiteten Parameter (Schwankungsweg, -geschwindigkeit und –fläche) lassen sich Aussagen zur Haltungs- und Gleichgewichtsregulation formulieren.

Mit der von uns verwendeten und gemeinsam mit der Firma neurodata GmbH (Wien) in nunmehr 19jähriger Forschungsarbeit (siehe Publikationen Posturographie) entwickelten Messmethode, dem Interaktiven Balancesystem (IBS), lassen sich darüber hinaus auch die Ursachen für etwaige Gleichgewichtsstörungen identifizieren. Grundlage hierfür ist die Umwandlung des Kraft-Zeit-Signals mittels Fourier-Analyse in ein Spektogramm (Abb. 1). 

Abb. 1: Überführung eines Kraft-Zeit-Signals in eine Spektogramm mittels Fourier-Analyse

Damit werden die im Schwankungssignal enthaltenen Frequenzanteile herausgefiltert, welche sich wiederum posturalen Subsystemen (visuell, vestibulär, cerebellär, nigrostriatal, somatosensorisch) zuordnen lassen (Tab. 1). 

Tab. 1: Funktionelle Frequenzbereiche des posturalen Systems. F=Frequenzbereich.

Frequenzbereich [Hz] Posturale Subsysteme
0,03 - 0,01 (F 1) visuelles & nigrostriatales System
0,1 - 0,5 (F 2-4) perpher-vestibuläres System
0,5 - 1,0 (F 5-6) somatosensorisches System
> 1,0 (F 7-8) cerebelläres System

Erst auf dieser Basis kann die Diagnostik von Gleichgewichtsstörungen gelenkt und somit effektiver gestaltet werden. Überdies sind diese Informationen essentiell für eine zielgerichtete Gestaltung des Rehabilitationsprozesses.

Die Messwertaufnahme erfolgt im aufrechten Stand auf zwei Kraftmessplatten. Diese enthalten Dehnungsmessstreifen und sind in der Mitte geteilt, so dass eine differenzierte Erfassung von Vertikalkräften im Vor- und Rückfußbereich möglich ist. Die Messdauer in den 8 Testpositionen beträgt jeweils 32 s (Abtastfrequenz: 32 Hz). Aufgabe des Probanden ist es, in unterschiedlicher Konstellation (Augen auf / geschlossen, auf Schaumstoffpolster stehend, Kopfdrehung etc.) möglichst ruhig, aber gleichzeitig locker zu stehen. 

Abb. 2a-h: Messung der Haltungsregulation mittels IBS – Testsituationen 1 bis 8

Da die erfassten posturalen Subsysteme nicht nur an der aufrechten Haltung respektive der Erhaltung des Gleichgewichts sondern an nahezu allen Bewegungen und motorischen Leistungen beteiligt sind, ergibt sich für das IBS ein sehr breites Anwendungsspektrum. Sowohl im Sport und Beruf (Eignungs- und Leistungsdiagnostik in speziellen Sportarten und Berufen) als auch für den medizinischen Bereich (Diagnostik und Rehabilitation) lassen sich zahlreiche Einsatzgebiete benennen:

  • Orthopädie: Wirbelsäule, Fuß, Knie, Hüfte,
  • Neurologie: Parkinson, Kleinhirn, Multiple Sklerose,
  • HNO: Schwindel,
  • Geriatrie: Sturzdiagnostik und –prophylaxe,
  • Rehabilitation: Evaluierung sensomotorischer Interventionsprogramme.

Befördert wird die breite Anwendbarkeit des IBS durch die Mobilität des Messsystems, die Praktikabilität der Messung (ca. 5 min) und die sehr geringe Belastung der Testperson. Dadurch können Personen jeder Leistungsfähigkeit (Patienten, Gesunde, Sportler) und jeden Alters (5-100 Jahre) getestet werden, wie anhand eigener, umfangreicher Untersuchungen gezeigt werden konnte. Überdies ermöglicht der Vergleich der Testdaten mit Referenzdaten (1724 gesunde Personen im Alter von 5-100 Jahre) eine valide Interpretation und Befundung. 

Gleichsam ist darauf hinzuweisen, dass die Posturographie im Allgemeinen und das IBS im Speziellen keine diagnostische Methode in den o.g. medizinischen Disziplinen ersetzt. Sie kann aber sehr wohl die vorhandenen Assessments sinnvoll ergänzen und signifikant zu einer schnelleren und sensitiveren Diagnosefindung beitragen, was sowohl im Interesse des Gesundheitssystems (Kostenersparnis) als auch des Patienten (Zeitersparnis) ist.

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